EYYA_Der komische Mann

GedankenLos

Der ‚komische‘ Mann

Nur weil einem etwas vertraut erscheint, bedeutet das nicht, das man es erkennt.
»Vertrauen Sie mir«, sagte der Mann, »ich werde Ihnen den rechten Weg schon zeigen!«
»Aber wohin?« fragte ich.
»Sie wissen ganz genau wohin, mein Herr«, erwiderte der Mann.
Er war freundlich und schien davon überzeugt zu sein, dass er genau wusste, dass ich ebenfalls hätte wissen können, worüber er sprach.
»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen«, sagte ich.
Ich war irritiert und hegte insgeheim die größtmögliche Hoffnung, dass er – dieser ‚komische‘ Mann – mich lieber in Ruhe lassen sollte. Ich kannte ihn nicht und hatte auch keine Lust auf dieses unnötige Frage-und-Antwort-Spiel der sonderbaren Art, bei dem sowieso nichts Gutes herauskommt – meistens jedenfalls nicht –, und außerdem: Wie sollte er mich ‚aus der Reserve locken‘ können, wenn ich tatsächlich nicht wissen konnte, worüber er sprach. Das ergab alles kein Sinn!
»Soso, jetzt will er auf einmal nichts wissen«, sagte der Mann.
Ich konnte ihm ansehen, oder wollte mir das vielleicht gerne so eingebildet haben, dass er amüsiert war und dass er sich schon fast lustig über mich machte.
»Das reicht jetzt! Wenn Sie nicht augenblicklich aufhören …«
Ich ballte meine rechte Hand zu einer harten Faust zusammen und streckte sie in die Luft, um meiner festen Entschlossenheit ernsthaften Ausdruck zu verleihen. Auch wenn meine Reaktion vielleicht etwas übertrieben war, egal! Denn irgendwann ist Schluss mit lustig – dieser Mann ging mir auf die Nerven.
»Jetzt beruhigen Sie sich bitte, ist doch nichts Schlimmes passiert«, sagte der Mann, »es ist alles gut!«
Und nach einer kleinen Pause, in der er sich selbst die Zeit gab – wofür auch immer – und wahrscheinlich auch mir, dass ich mich ebenfalls sammeln und beruhigen konnte, fuhr er fort:
»Nun zeige ich ihnen endlich den rechten Weg.«
Er sagte das mit einer so sanften und überzeugenden Stimme, dass er mir tatsächlich jenen kräftigen Wind aus den Segeln nahm, auf den ich so sehnsüchtig wartete, der fast im Anflug war, und der mich endlich hätte forttragen können – ganz weit weg von diesem ‚komischen‘ Mann, dem ich nie begegnen wollte. Ich konnte mich bei aller Anstrengung nicht daran erinnern, dass ich mir eine so ‚komische‘ Begegnung jemals gewünscht hätte. Warum auch; was hätte das schon bringen sollen? Ich tat also so, als würde ich klein beigeben und dachte ‚Naja, der klügere gibt ja wohl nach, nicht wahr?‘
»Na gut, dann zeigen Sie endlich her«, sagte ich, »dann haben wir das hinter uns.«
»Dann kommen Sie bitte mit!«
Er forderte mich mit einer höflichen Handgeste auf, dass ich vorgehen solle.
»Nein, nein«, sagte ich, »gehen Sie ruhig vor, Sie kenne ja den Weg!«
»Also gut, dann gehen wir eben nebeneinander her, bis wir unser Ziel erreicht haben«, sagte der Mann.

Und wir machten uns auf den Weg. Wir gingen eine ganze Weile in der Dunkelheit durch verlassene Straßen, die mir seltsam vertraut erschienen. Und wir gingen über dunkle Wiesen und Täler, entlang an einem Meer, dessen leichter Wellengang wie kleine Perlen im zarten Mondlicht schwarz und glitzernd abwechselnd funkelten. Wir bewegten uns am Tage über trockene aber fruchtbare Böden, auf denen hier und da prächtig große Feigenbäume standen, deren Früchte so reif waren, dass sie von selbst abfielen. All das kam mir irgendwie bekannt vor, so, als sollte ich mich möglicherweise an meine Kindheit erinnert fühlen. Aber ganz sicher war ich mir nicht, und so kümmerte ich mich nicht weiter darum, denn jetzt war ich in der Tat irgendwie neugierig geworden und wollte wissen, wohin wir gingen und was das Ganze zu bedeuten hatte.
Wir gingen und gingen – ohne uns zu unterhalten –, und ich kann mich tatsächlich im Nachhinein nicht mehr erinnern, wie lange dieser Weg andauerte, aber plötzlich und ohne jedes Anzeichen einer möglichen Ankunft, standen wir vor einem sehr großen Tor: So mächtig und schwer, dass ich mir nicht vorstellen konnte, welche enorme Kraft dieses gewaltige und riesig in die Höhe ragende Tor dort hingestellt hatte, geschweige denn hätte je öffnen können.
»So, da sind wir nun«, sagte der Mann.
Er deutete auf das kolossal massive Tor, das niemand in tausend Jahren scheinbar hatte öffnen können. Ich konnte mir jedenfalls keine so außergewöhnlich starke Tatkraft vorstellen. Ich war dennoch irgendwie unbefriedigt und beklagte diesen Augenblick:
»Das hätte ich mir ja denken können! Da laufen wir so lange hin und her, auf und ab, bis wir an ein Tor kommen, das Niemand aufbekommt. Und wozu? Damit man nicht hineingehen kann und bitter enttäuscht ist? Ich versteh’ nicht, was das soll!«
»Können Sie sich nicht erinnern?« fragte der Mann.
»Nein, kann ich nicht!« erwiderte ich schroff.
Und auf einmal überkam mich das eigenartige Gefühl, dass ich vielleicht einem Betrüger aufgesessen war? Der mich hier an Ort und Stelle mit Leichtigkeit hätte ausrauben können, oder vielleicht sogar noch viel Schlimmeres, wer weiß? Dieses ‚Schlimmere‘ wollte ich mir lieber doch nicht so genau vorstellen. Und außerdem hatte ich mittlerweile Hunger und war sehr müde von der langen Wanderschaft.
»Gut, dann zeige ich es Ihnen jetzt!«, sagte der ‚komische‘ Mann.
Wäre ich in diesem Moment ein riesig aufgeblasener roter Ballon gewesen, wäre ich vor Neugier so heftig geplatzt, dass man die tausend Teile des Ballons hätte nicht wiederfinden können. So sehr wären sie in alle Himmelsrichtungen verstreut worden, und so sehr war ich wirklich neugierig gewesen. Ich wollte es jetzt wissen! Also wartete ich.

Der ‚komische‘ Mann trat entspannt und mit vornehmer Geduld vor das gewaltige Tor, hob seine beiden Arme langsam in die Luft empor und machte mit seinen Händen eine ruhige Wischbewegung von der Mitte aus zu beiden Seiten gleichzeitig, als würde er andeuten wollen, dass sich das Tor sogleich zu öffnen hätte.
Was dann geschah ist für mich nach wie vor schwer zu begreifen.
Und in der Tat – zu meiner allergrößten Verwunderung und Faszination – schoben sich diese beiden schweren Flügel dieses gewaltig massiven Tores so leicht und geräuschlos beiseite, als wären sie die leichtesten und senkrecht stehenden Federn, die die Welt je gesehen hat – ein Hauch von Nichts sozusagen –, als hätte jemand etwas Atemluft gegen sie gepustet, um sie sanft zur Seite zu wehen, spielerisch und ganz ohne Mühe.
Die Freude war so sehr in sein Gesicht geschrieben, wie man es wahrscheinlich sonst sehr selten sieht – wie die Glückseligkeit an sich –, präsentierte der ‚komische‘ Mann mir das, was hinter dem Tor zum Vorschein kam.
»Da, schauen Sie«, sagte der Mann, »habe ich Ihnen zu viel versprochen?«
Er ging einige Schritte beiseite, als wollte er mir etwas Platz machen – obwohl unendlich viel Raum um uns herum vorhanden war –, damit ich das ganze Bild, das sich vor unseren Augen entfaltete, erfassen konnte.
Und das, was ich zu sehen bekam war so einzigartig, atemberaubend herrlich und schön, prächtig im Volumen, so körperlich wuchtig und lieblich zart zugleich, und in seiner multidimensionalen Ganzheit nicht auf einmal zu erfassen, weil so viele Details, für die man sich ganz bestimmt sehr viel Zeit nehmen musste, das ganze Bild dieser ‚Erscheinung‘ ausmachten: Diese Hunderte von Millionen in allen nur erdenklichen Größen strahlenden Lichter, diese unglaublich fantastischen und sehr extravaganten Farben, deren Farbspektren mir als etwas ganz Neuartiges erschienen, und diese angenehm schwerelosen und harmonischen Auf und Ab-Bewegungen der verschiedenen halbtransparenten Volumina, als würde etwas derart Komplexes in Zeitlupe wiedergegeben werden, dass man unendliche Zeit dieser Welt benötigte, vielleicht die Zeitspanne ganzer Galaxien, sogar des ganzen Universums, und noch viel weiter und noch viel mehr, um diese Transformation in ihrem Rätsel vielleicht zu begreifen.
Das, was ich in diesem Moment erblickte, das sich zeitlich so anfühlte wie eine unendliche Ewigkeit, die ich dort stand, verweilte und alles um mich herum vergaß, war so wunderschön und in ihrer Herrlichkeit der Hülle und Fülle, so vollkommen und befreiend, ganzheitlich erfüllend und erlösend, wie nur etwas wunderschön und hinreißend göttlich sein kann, wundersam in seinen Ausmaßen, unverwundbar und betörend zugleich. Ich hatte noch nie zuvor so etwas derartig harmonisch Formvollendetes oder Vergleichbares gesehen, geschweige denn, mir vorstellen wollen, dass so etwas je hätte existieren können. Ich dachte nur, dass alles Fantastische, was ich bislang nur annähernd in gewissen Filmen zu sehen bekam – was sicherlich visuell sehr beeindruckend gewesen war oder zu sein schien – bei weitem nicht dem entsprechen konnte, was sich vor meinen Augen mit Leichtigkeit ausbreitete. Und ich konnte und wollte mich daran nicht sattsehen.
‚Niemand außer mir hat vielleicht so etwas Wunderbares zuvor gesehen‘, dachte ich gutgläubig wie ich war. Ich war so tief gerührt, dass ich nur beiläufig bemerkte, dass Tränen der Freude über meine Wangen rollten. Hätte ich mich in diesem Moment von außenstehend selbst betrachten können, hätte ich höchstwahrscheinlich einen kleinen Jungen gesehen, der mit großen leuchtenden Augen und mit staunendem Mund das Wunder und die Glückseligkeit versuchte zu erfassen, während Tränen der strahlenden Freude, Hingabe und Liebe, vielleicht sogar der Erlösung sich in ihm erbauten und gleichzeitig Erinnerungen der ewigen Trauer ebenso von ihm abfielen. Wie eine Befreiung von ‚Allem‘, nach der man sich lange Zeit so sehr gesehnt hatte. Aber ich war kein kleiner Junge mehr. Ich war jemand, der jenseits seiner sechzig Jahre weiterhin nach Sinn und erfüllenden Aufgaben in seinem Dasein suchte, um dieses ‚Ding Leben‘ einigermaßen zu meistern – so gut, wie es eben ging –, und der nicht bereit war aufzugeben, obwohl mir manchmal schon sehr danach zumute war.
»Und? Erinnern Sie sich jetzt?« fragte der Mann. »Sie standen schon einmal hier.«
»Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern«, erwiderte ich und fragte:
»Aber wie kann man sich denn an so etwas Schönes tatsächlich nicht erinnern?«
»Wir müssen vergessen, damit wir uns wieder erinnern können«, sagte der Mann und fuhr fort:
»Das ist die Wahl, die wir haben … ‚Der unendliche Kreis‘, verstehen Sie?«
Nein, ich verstand in dieser Situation ganz und gar nichts, denn ich war wie benommen und erfüllt zugleich. ‚Aber sei’s drum‘, ich wollte ja Antworten von diesem Mann, damit ich all diese Vorgänge, die mich angenehm überwältigten wie auch überforderten, besser einsortieren konnte.
»Was habe ich denn damals gemacht, als ich hier schon einmal stand?«
»Sie sind nicht weitergegangen!«
»Das ist aber sehr schade, dabei ist da bestimmt noch mehr als nur ‚der rechte Weg‘.«
»Wieso ‚der rechte Weg‘?« fragte der Mann.
»Sie sagten doch, dass Sie mir ‚den rechten Weg‘ zeigen wollten, deswegen sind wir doch hier, nicht wahr?«
Der ‚komische‘ Mann verfiel augenblicklich in ein beherztes und schallend lautes Gelächter, dass mich ein seltsames, fast peinlich berührtes Gefühl der Unwissenheit überkam. Als hätte ich etwas dermaßen Falsches gesagt, dass ich das Ausgesprochene nicht mehr zurücknehmen konnte.
Er antwortete mit einer so freundlichen und sanften Stimme, die ich so zuvor von ihm nicht vernommen hatte:
»Nein, mein lieber Herr F … ich wollte Ihnen ‚den lichten Weg‘ aufzeigen und nicht den ‚rechten‘. Da haben Sie mich aber gründlich missverstanden!«
»Aber Sie sagten doch … irgendetwas von ‚rechten Weg‘ zeigen …«, stammelte ich.
»Man hört manchmal ‚nur das‘, was man hören möchte, lieber F«, sagte er.
Für einen kurzen Moment der Unendlichkeit, in der ich so perplex war, und dass sich für mich so anfühlte wie die vielen peinlichen und unnötigen Versprecher aus vierzehn langen Leben zuvor, fragte ich ihn:
»Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich? Ich weiß immer noch nicht ihren Namen.«
»Ich bin der ‚kosmische‘ Mann oder der ‚kosmische‘ Bote, je nachdem, was ihnen leichter fällt, mich zu benennen«, sagte der Mann.
»Und ich bin immer für Sie da, lieber F … egal wann und wo immer Sie mich brauchen.«

Und genau in diesem Augenblick löste sich der ‚kosmische‘ Mann auf, wie eine Gestalt, die wieder zum Licht zurückkehrt. Dieser Moment war angenehm warm, lichterfüllt und voller Liebe; so erinnere ich mich immer wieder gerne und sehr gut daran.
Ich stand noch eine ganze Weile da und musste das Erlebte erst einmal verdauen oder zumindest irgendwie darüber nachdenken, was eigentlich geschehen war. Ich stand also vor diesem Tor mit der sagenhaften Aussicht dahinter, und überlegte, was zu tun sei.