Luise

GedankenLos

LUISE

I. Vergessen
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Luise Marquardt, mit einer dunklen Jeans, gutsitzender leichter Blouson-Jacke und schwarzweißen Sneakers leger und geschmackvoll gekleidet, überquert mit sicheren Schritten eine breite Straße, die um diese Uhrzeit wenig befahren ist. Es ist ein fast warmer, wunderschöner und ruhiger Frühsommermorgen. Weiches Sonnenlicht schimmert angenehm rosa auf Luises Teint und das kräftig dunkelbraune Haar fällt der Mittdreißigerin natürlich locker über ihre Schultern. Sie geht zielstrebig auf einen unauffällig dezenten Geländewagen zu, der am Straßenrand parkt und steigt ein.
Luise zieht die Tür des Wagens zu. Das Blech fällt erstaunlich sanft und mit einem unerwartet satten und beruhigenden Klang ins Schloss. Ein vertrautes Geräusch, vielleicht wie ein Garant dafür, dass man hoffentlich sicher ankommen wird, was auch immer das Ziel sein mag, denkt Luise beiläufig, während sie augenblicklich stutzt und sich im nächsten Moment stirnrunzelnd fragt, wie denn ein Klang von einer Autotür der Garant für irgendetwas sein kann. Sie verwirft weitere Gedanken in diese Richtung sogleich und kuschelt sich mit einem Gefühl der Behaglichkeit in den eingesessenen Fahrersitz aus Leder beinahe so, als wollte sie sich darin für lange Zeit richtig gemütlich machen. Sie schließt die Augen, atmet tief und länger durch die Nase Luft ein, hält kurz inne und atmet langsam durch den Mund Luft wieder aus, als wäre sie am Ende einer Entspannungsübung angelangt. Ein Ritual, das ihr scheinbar vertraut ist, denn die guttuende Wirkung lässt sie für einige Augenblicke tief und entspannt auf dem Fahrersitz ausruhen.
Sie schlägt ihre Augen wieder auf, wendet den Kopf zur Seite und richtet ihren Blick zum Beifahrersitz, dessen schwarze Lederpolsterung fast unangetastet anmutet. Sie betrachtet wohlwollend ein großes Paket, das in buntes und fröhliches Geschenkpapier eingewickelt ist und welches wie von magischen Händen auf diese Sitzfläche abgelegt wurde. Drapiert mit einer festlich roten Schleife aus Satin, das freudig danach schreit, aufgebunden zu werden, damit der überraschende Inhalt zum Vorschein kommen kann. Dieses bunte Paket erweckt einen vertrauten Eindruck, denn es wartet sicherlich darauf, feierlich an einen besonderen, vielleicht kindlichen Empfänger, übergeben zu werden. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich über Luises Gesicht aus. Sie nimmt erneut einen tiefen und langen Luftzug durch die Nase, als wollte sie nun – anders als im Augenblick zuvor – diesen absehbar schönen Tag in sich einsaugen und für immer darin festhalten. Sie atmet langsam wieder aus und startet den Motor.
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Junge männliche Hände, mit kurzen leicht verschmutzten Fingernägeln und dreckigen Fingerkuppen, versuchen zittrig und unsicher kleine fragile Plastikteile mit Klebstoff zusammenzusetzen. Der Kleber wird derart ungleichmäßig und dick aufgetragen, dass er sich beim Zusammenfügen über die jeweiligen Kanten der einzelnen kleinen Verbundstücke des Materials zähflüssig herauspresst und viel zu große und geleeartige Wülste erzeugt, die unweigerlich drohen wegzufließen. Die jungen Hände jedoch wischen den überschüssigen Klebstoff einfach mit den Fingern grob weg und streichen die Stellen mehrmals glatt, bis an diesen Klebestellen unansehnliche Schmiereffekte entstehen. Es handelt sich bei diesem Werkstoff, der unsauber aber zügig verarbeitet wird, um ein Modellbau-Kriegsflugzeug aus typisch hellgrauem Kunststoff, das so handelsüblich blank und roh daherkommt, wie man das eben kennt, wenn man schon einmal solche kleinen Modelle zusammengebaut hat.
Ein kleiner runder Pinsel wird in ein Farbtöpfchen getunkt. Die Finger pinseln das noch unfertige Flugzeug dermaßen schwungvoll und ungelenk mit signalroter Farbe an, dass der Auftrag misslingt und auf dem ersten Blick etwas unschön aussieht. Wenn man jedoch diesen Vorgang im Umkehrschluss eher wohlmeinend betrachten könnte, würde man annehmen wollen, dass diese expressive Handlung beinah wie beabsichtigt erscheint, fast schon so, als würde jemand künstlerisch sehr gewieft seine Pinselstriche setzen – als wüsste er ganz genau, was er da tut.
Aber die Kunst, gewollt oder vertrieben, verrückt oder entrückt, verletzlich oder ganz grob, leicht oder tonnenschwer, gekonnt oder naiv – aber sei’s drum, was auch immer sie ist oder sein will – unterliegt permanent der Deutungshoheit „betrachtender Individuen“, die sich in einem Prozess der personifizierten Eindringlichkeit – und vielleicht im schlimmsten Fall, in einem Anflug der Überheblichkeit und der Anmaßung – das gesamtes „Bild“ zuerst ersehen und dann erfühlen müssen, um sie – die Kunst an sich, und ihr Wesen – zu erkennen, schließlich und letztendlich für sich selbst beurteilen und bewerten zu können, nicht wahr? Was aber, wenn der „Betrachtende“ die Kunst nicht versteht? Oder keine Orientierung hat? Oder sich in seiner eigenen Zurschaustellung stattdessen gänzlich verliert? Wohin das tatsächlich führt, weiß keiner so genau, aber ansatzweise und hoffentlich zu einem ernsthaften und lebendigen Diskurs über die Ideen der Kunst und ihren geheimnisvollen und unergründlichen Möglichkeiten des Schöpferischen, des manchmal Surrealen, und dennoch: Ab und an, und leider sehr oft, führt dieses „Ganze Hickhack“ über die Kunst fälschlicherweise zu der Plattitüde „Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Und das kann sehr schmerzvoll sein, nicht nur für den Betrachter! Denn wir erinnern uns unter anderem ans Luis Buñuels berühmten Kurzfilm „Ein andalusischer Hund“ (Originaltitel Un chien andalou, 1929).
Im Hintergrund, und aus keiner genau zu ortender Richtung, erklingt das vergnügliche, unrhythmische und leise Summen einer jungen männlichen Stimme, die sang- und klangvoll große Freude und Gelassenheit an ihrer kreativen Bastelarbeit verlauten lässt. Doch plötzlich und ohne ersichtlichen Grund rutscht die „malende“ Hand aus und die rote, etwas pastose Plakafarbe, landet auf dem hellen Papier-Untergrund des Basteltischs, anstatt auf dem Kunststoff des Modells. „Welch ein Segen“, könnte nun der hocherfreute und sensibilisierte Betrachter innerlich jubeln, und sich intuitiv und heimlich darüber freuen oder sich sogar darin bestätigt fühlen, dieser wild und scheinbar unkontrolliert schwingenden Hand womöglich spontane und gelungene Kunst zu attestieren, anstatt nur einfache Makulatur?
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Luise fährt mit ihrem Auto auf einer einsamen Landstraße, die partiell von weitläufigen und jüngst frisch gemähten Feldern umgeben ist. Diese an ihr vorbeiziehende Landschaft wechselt mit Feldern ab, die unregelmäßig mit altem Baumbestand bewohnt, wie auch von Abschnitten großer Wiesenflächen umgeben sind, die noch wild bewuchert brach liegen und darauf warten, ebenfalls für die Heuernte vorbereitet zu werden. Luise ist gut gelaunt und singt leise einen Song mit, der im Autoradio als dezente Hintergrund-Geräuschkulisse den Innenraum des Wagens ausfüllt.
Das Auto biegt von der Landstraße in einen schmalen Feldweg ab, der unerwartet und im Gegensatz zu der Umgebung davor, nun von sehr kargen und kleineren sich unnatürlich aneinanderreihenden Ackerflächen umsäumt ist. Luise bestärkt sich gedanklich darin, in diesem schönen und geländetauglichen Gefährt zu sitzen und damit ihre Fahrt angetreten zu haben, denn das macht beim Anblick des hubbeligen Feldwegs doch sehr viel Sinn, oder etwa nicht, denkt sie erleichtert, während sie vergnüglich und mit viel Elan die unebenen und holprigen Teilstücke dieser Strecke als kleine Herausforderung zu meistern versucht.
Am Ende des Weges entschwindet der Wagen in einen angrenzenden Wald, der sich beinah wie ein Tor zu einer anderen Welt geheimnisvoll und dunkelgrün öffnet.
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Auf dem großen Basteltisch herrscht ein heilloses Durcheinander, sodass man gerne und lustvoll der spontanen Eingebung verfallen könnte, dass es sich bei dieser Unordnung um einen Abenteuerspielplatz für Augen handelt, die sich nicht genug an dieser zufälligen „Komposition“ sattsehen können, und als wollte man ebenso beherzt ausrufen wollen: »Das ist wirklich sehr schön so« oder »Hier ist in der Tat ganz schön viel los«:
Diverse Bastelmaterialien zum Beispiel in Form von gutriechender und echter Plakafarbe guter Qualität, hauptsächlich grelles Rot und Signalgrün, irgendwo ein Rest von erschreckend ungewöhnlichem Hellblau, allesamt und definitiv das Gegenteil von Le Corbusiers Farbsystem ‘Polychromie Architecturale’. Weiterhin kann man kleine und größere bunte Aufkleber für die Flugzeugdekoration erkennen, feine Drahtkordeln, teilweise sehr zerknüllte wie auch diverse wieder glatt gestrichene Kritzelzeichnungen und vieles mehr, dass man bestimmt noch entdecken kann und wollte, wenn man sehr viel Zeit und Geduld auf diesen „Spielplatz für erfreute Augen“ mitbringen würde. Zu den Flugzeugen, die bereits fast fertig zwischen all diesem Tohuwabohu herumliegen und auf ihre Bestimmung warten – wie immer diese auch aussehen mag – gesellen sich auch ein paar teils unfertige flugzeugähnliche Flugobjekte und sogar zwei kleine Kriegsschiffe hinzu, die ebenfalls dilettantisch — »Verzeihung, ich meine natürlich beinahe virtuos — mit greller Farbe „bemalt“ sind.
Wenn wir diesen überdimensionalen Basteltisch zu seinen Rändern hin weiter begutachten – weil ja die Neugier bekanntlich unstillbar ist – erkennen wir plötzlich und unerwartet die Lunten von zwei sehr großen Böllern, deren wuchtige Körper unter farbverschmierten Zeitungsfetzen verräterisch hervorscheinen, aber gerade nur so viel, dass sie noch unentdeckt bleiben wollen, damit man sich um sie keine Sorgen machen muss. Es sind solche Knallkörper, die mit Bestimmtheit nicht in kindliche oder jugendliche Hände gehören. Auch Hände von Erwachsenen müssten mit ihnen vorsichtig und sehr sorgsam umgehen.
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Luise manövriert ihr Fahrzeug gekonnt über eine enge und kurvenreiche Waldstraße hinweg, auf der außer ihrem Wagen kein anderes Auto weit und breit zu sehen ist – zumindest sieht Luise bis zu diesem Zeitpunkt kein Gegenverkehr, der ihr ein vertrautes Gefühl von „Gott sei Dank, ich bin hier nicht allein unterwegs“ vermitteln würde. Die Umgebung – der angrenzende dunkelgrüne Wald entlang der beengten zweispurigen Straße – erscheint ihr in der Tat seltsam verlassen und unbewohnt. Würde zu aller Ungewissheit noch ein umgefallener schwerer Baum diese schmale Straße versperren, wäre das sicherlich wie eine unheimliche Szene aus einem Film, den jeder sicherlich schon irgendwann einmal gesehen hat, schaudert Luise innerlich. Und sie fragt sich, ob dieser Wald wirklich Tiere beherbergt, denn diese merkwürdige Atmosphäre, die über dieser Baumlandschaft fast wie eine Bürde aus längst vergangenen Tagen liegt, empfindet sie nicht als sonderlich einladend. Vielmehr ist es ein fast bedrückendes Gefühl, das sie nicht ohne jedwede Skepsis für sich einordnen kann. Wäre dieser Tag nicht von Anbeginn so erfreulich warm und sonnenstrahlend erheiternd gewesen, und hätte sie die Fahrt bis jetzt nicht als so leicht und angenehm empfunden – trotz ihrer teilweise unterschwelligen Aufgeregtheit und Nervosität – würde Luise beim Anblick dieser Umgebung – und dass erst recht bei Nacht, Nebel oder schlechtem Wetter – mehr Angst und Unsicherheit überkommen, als sie in diesem Moment bereit war, sich selbst einzugestehen.
Mit einem sanft ruckartigen Kopfschütteln lässt Luise von weiteren unguten und möglicherweise aufkommenden Gefühlsschwankungen ab, wischt ihr Bedenkenpaket gedanklich beiseite und setzt ihre Fahrt fort – begleitet von Licht und Schatten, die große und dicht beieinanderstehende Bäume erzeugen, während der Wagen an ihnen vorbeizieht. Luise fühlt, dass sich ihre sorgenvolle Stimmung langsam und sicher auflöst, und sie konzentriert sich auf das angenehme und natürliche Licht- und Schattenspiel der hochgewachsenen Nadelbäume, die der Wald beinah stolz anzubieten hat. Und Luises Stimmung erhellt sich noch weiter, weil sie diese Hell- und Dunkel-Lichtreflektionen auf ihrem Gesicht als ‚beweglich streichelnd‘ und angenehm lebendig empfindet, während sie ihre Fahrt fortsetzt. Einige Zeit später bremst Luise den Wagen langsam ab und biegt in einen schmalen und einfachen Waldweg ein, an dessen Anfang ein gut gestaltetes Schild mit der Aufschrift „Privatweg“ den Besucher möglicherweise auf ein baldiges und freudiges Ziel hinweist oder vorbereitet, je nachdem, was er sich sehnlicher wünscht.
Nach einer Weile der Autofahrt, vorbei an saftigen und grünen Wiesen, auf denen friedlich grasende Neuseeland-Schafe ein herrlich idyllisches Naturbild abgeben würden, endet der Waldweg ohne Vorwarnung ganz abrupt. Eine mit feinem grauen Basaltsplitt ausgelegte Hofeinfahrt zu einem großen und eleganten und in sehr hellen Farben gehaltenen Landhaus, das in gewissen Teilen der Außenfassade beinah gewollt in Kontrast zu einem klassischem Bauhausstil der 20er Jahre in friedlicher Koexistenz zu konkurrieren scheint, öffnet sich vor Luises Augen. Sie fährt auf den großzügig angelegten Innenhof auf und hält den Wagen an, ohne viel Lärm zu machen.
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Die massive und glatte Haustür des Landhauses wird leicht und energisch mit einer ruckartig unsichtbaren Geste in der Mitte in zwei gleiche Teile aufgeschoben. Tim Marquardt, ein schlanker und sehr hochgewachsener junger Mann mit androgyner Erscheinung – mit seltsam blasser Haut und dunklen Haaren, die wild nach hinten gekämmt sind und dort mit aller Hartnäckigkeit nicht verbleiben wollen – stürmt mit Freudengebrüll auf Luises Wagen zu, als hätte er dieser Ankunft so sehnsüchtig entgegengefiebert, dass nichts anderes in diesem Augenblick zählt wie das Wiedersehen mit Luise.
Luise steigt entspannt und lächelnd aus ihrem Wagen aus, und bevor sie noch irgendetwas sagen oder gestikulieren kann, schleudert sich Tim ihr dermaßen fest und unkontrolliert entgegen – wie Körper an Körper, prallt Fleisch auf Fleisch – dass er die überraschte Frau beinah umschmeißt. Er umarmt Luise kräftig und unbeholfen mit seinen beiden langen Armen eng, schmiegt sich innig an sie an und lehnt seinen Kopf sanft herunter an ihre Stirn, als wollte er ein geheimes Ritual zwischen ihm und Luise wiederholen und festigen, so wie es vielleicht Menschen tun, die einander sehr vertraut sind.
»Luise, endlich bist du da«, flüstert Tim unnatürlich laut, während er erleichtert nach seiner Aufgeregtheit endlich wieder Luft holen kann.
Überwältigt von Tims überschwänglicher Begrüßung erwidert Luise die Umarmung des jungen Mannes liebevoll und streichelt sanft seinen Kopf.
»Tim, mein Großer... ich hab’ dich so vermisst«, sagt sie mit weicher Stimme.
Luise schaut in die hellen strahlend blauen und klaren Augen von Tim hoch, der daraufhin antwortet: »Ich auch.«
Spontan löst sich Tim von seiner eigenen Umklammerung und präsentiert Luise mit großen und leuchtenden Augen sein neues und „unschön“ — »Verzeihung, ich meine natürlich beinahe virtuos — bemaltes Kriegsflugzeug oder Flugobjekt, je nachdem, als was man es lieber erkennen möchte.
»Guck mal, Luise... das kann fliegen… und schau mal wie!«, ruft Tim begeistert, und beginnt anschließend mit seiner Parade, als hätte er das eigens für Luise einstudiert.
Luise verfolgt belustigt und wohlwollend das Schauspiel von Tim, der sich von jetzt auf gleich in sein eigenes Spiel verliert: Er schleudert seine beiden Arme unkoordiniert in die Luft, um das Flugzeug in den Himmel aufsteigen zu lassen. Dann läuft er slalomartig in Richtung Haus und wieder zurück, während er mit abwechselnd nach links und rechts kreisenden Bewegungen seines gestreckten Führungsarms den dramatischen Flug des Fliegers nachahmt, wie es emporsteigt – höher und höher – um sich dann im Sturzflug erneut dem Boden so gefährlich und riskant zu nähern, als wollte es im nächsten Moment gewaltig auf den grauen feinen Basaltsplitt krachen, um in tausend einzelne kleine Teile zu zerschmettern. Er jubelt und jauchzt vor Freude. Tim ist so sehr in seine eigene „Ich-fliege-Flugzeug-Welt“ eingetaucht, dass er alles um sich vergisst.
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Weder Luise, und erst recht nicht Tim, bemerken, dass auf der Schwelle der aufgeschobenen Haustür Helga Marquardt schon eine ganze Weile steht und das vergnügliche Treiben beobachtet – eine perfekt gestylte Endfünfzigerin, deren dunkelbraun geglätteter Pagenschnitt und ihr vornehm in dunkelblau und beige gehaltener Kleidungsstil mit leichter lässiger Bluse, feiner Stoffhose und kostspieligen aber bequemen Loafers ohne Zweifel die Frau des Hauses zu einer ungewöhnlich attraktiven Erscheinung machen. Sie lächelt zufrieden in Luises Richtung und winkt ihr dezent zu.
»Luise, pünktlich wie immer«, sagt sie mit vornehm leiser Stimme, die jedoch kaum bis zu Luise durchdringen kann. »Jetzt kommt doch endlich rein… ihr beiden. Tim, du auch bitte! Es gibt bald Essen!«
Luise geht mit ruhigen Schritten auf die anmutige Frau zu und begrüßt sie mit einem Kuss auf die Wange.
»Hallo Mama, schön dich zu sehen.«
»Freut mich, dass du da bist Luise. Hattest du eine gute Fahrt?«, fragt die Mutter.
»Ja, es war ganz angenehm. Es ist immer wieder schön, durch diesen Wald zu fahren«, erwidert Luise.
»Dieser Wald ist in der Tat etwas Besonderes«, sagt die Mutter.
Die beiden Frauen schauen sich liebevoll an und Mutter Helga macht eine einladende Bewegung mit ihrer Hand.
»Komm, lasst uns endlich reingehen«, sagt sie.
Luise ruft Tim mit einer vertraulichen Geste – ähnlich dem Vulkanischen Gruß, jedoch abgewandelt – herbei, und dann gehen alle drei gemeinsam ins Haus, allen voran Tim, der den beiden Frauen förmlich davonläuft, während er sein Flugzeug nach wie vor vergnügt in der turbulenten Flugbahn hält und quietschvergnügte Laute von sich gibt, die in den weiten Räumen des Landhauses allmählich verhallen.

II. Erinnern
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Luise hält im elegant schlichten und großzügig geschnittenen Entrée des Hauses kurz inne, als wollte sie sich an irgendetwas bestimmtes erinnern, das ihr aber partout nicht einfallen möchte, während die Mutter zügig weitergeht, weil sie scheinbar sehr beschäftigt ist.
»Luise, ich muss mich um das Essen kümmern, du kannst ja gleich auch deinen Vater begrüßen!«
»Ist gut Mama«, erwidert Luise, »Ich gehe schnell zu Tim runter und bringe ihn zum Essen mit hoch.«
»Mach das!«, sagt die Mutter freundlich, bevor diese in einen anderen Raum entschwindet.
Das Entrée des Hauses ist dunkel gehalten – ohne nennenswerten Lichteinfall von außen – was auf dem ersten Blick zur hellen und freundlich ausgelegten Außenfassade nicht zu passen scheint. Wenn man jedoch ein paar Augenblicke dort verweilt – wie Luise das gerade tut – dann spürt sie, dass ihre Augen sich sehr schnell an diese dunkle Umgebung gewöhnen. Einige Zeit später bemerkt sie, dass allmählich sehr ansprechende und scheinbar sorgfältig ausgewählte Kunstwerke an den Wänden sich unaufdringlich aber deutlich zu erkennen geben, ohne dass diese Kunst unnötig mit künstlichen Lichtquellen oder Spots aufgehellt werden musste, so wie Luise das schon des Öfteren an anderer Stelle oder in anderen Raumsituationen gesehen hat – wo das Lichtkonzept zwar klassisch nützlich aber eher pragmatisch ausgelegt war. Aber hier im Hause Marquardt scheint nichts dem Zufall überlassen und der „Empfang“ ist unauffällig in seiner Wirkung und wurde dennoch fein und genau für diese „subtile“ und ungewöhnliche Eingangssituation komponiert. Das muss man den Eltern schon lassen, sie sind in der Tat sehr geschmackssicher, denkt Luise freimütig. Im Weiteren empfindet sie ebenfalls als sehr angenehm, dass von einem langen und helleren Korridor, der den Besucher geradewegs im Eingangsbereich abholt, mehrere sehr lichtdurchflutete Räume ohne ersichtliche Türen abgehen, die ähnlich wie bei ihrer Fahrt durch den Wald, ein Hell- und Dunkel-Spiel im inneren des Hauses andeuten, was die durchdachte Einbindung dieser Architektur in seine natürliche Umgebung als sehr glaubhaft und gelungen erscheinen lässt.
Luise geht den hellen Flur entlang und biegt in ein kurzes Seitenstück des Flurs ein, dass in diesem Fall tatsächlich mit indirektem und „versenktem“ Konturlicht ringsum zur Decke hin dezent ausgeleuchtet ist. Am Ende des Flurs befindet sich die einzige geschlossene Tür im Haus, deren ursprünglich makellose glatte und weiße Farboberfläche scheinbar schon mehrmals mit ebenso weißer Farbe sichtbar übertüncht wurde, weil der farbig bekleckerte Untergrund immer wieder durchzudringen versucht. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diese Tür erneut mit greller Farbe „verziert“ wird, grinst Luise innerlich. Sie öffnet die Tür, geht hinein und steigt vorsichtig eine Treppe hinunter.
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Luise betritt einen großen Raum, der nicht hell ist, weil außer einem kleinen sehr schmalen Fenster kaum Tageslicht den Weg von außen nach innen findet. Das Zimmer wird an verschiedenen Stellen mit künstlichen Lichtquellen ausgeleuchtet, die zwar eine angenehme aber dennoch unnatürliche Wohnatmosphäre entstehen lassen. Der Raum erinnert mehr an einen Hobbyraum, der zu einem Jugendzimmer umgestaltet wurde – oder vielleicht ist es sogar umgekehrt. Es lässt sich jedenfalls nicht eindeutig belegen, was dieser Raum einmal war oder wer ihn zuletzt bewohnt haben könnte.
Luise sieht zu Tim hinüber, der mit dem Rücken zu ihr an einem großen Basteltisch sitzt. Tim ist so mit sich selbst beschäftigt, dass er Luise nicht bemerkt. Neugierig schaut sich Luise in diesem Zimmer um, so als würde sie an einen Ort zurückkehren, der ihr einst vertraut gewesen ist. Die Art und Weise wie ihre Augen den Raum abtasten, lassen erahnen, dass sie wahrscheinlich ganz eigene Erinnerungen an diese Räumlichkeit hat. Ihr Blick bleibt an einer mittelgroßen und geschmackvoll in Nussbaumholz eingerahmten Fotoarbeit an der Wand hängen, das einen Wald abbildet, welches einerseits durch einen natürlichen Sonnenlichteinfall seltsam schön erscheint, das aber bei längerer Betrachtung auf Luise sehr unheimlich oder verunsichernd wirkt, ähnlich wie es dem Protagonisten des Films „Blow Up“ von Michelangelo Antonioni ergeht, der jedoch mehr durch die Neugier als Fotograf angespornt, einen ganz bestimmten Ausschnitt seines Fotos so lange im Detail vergrößert, bis er etwas „Verdächtiges“ oder Unheimliches darauf zu erkennen glaubt. Luise wendet sich augenblicklich von diesem Bild ab, tritt von hinten an Tim heran und schaut über seine Schulter:
Tim befestigt sehr grob einen gewaltigen Böller an sein unschön — »Verzeihung, ich meine natürlich beinahe virtuos — bemaltes Flugzeug, indem er diesen Böller mit feinem Draht intuitiv um den Rumpf des Flugzeugs zügig und fest umwickelt. Der imposante Knallkörper hat eine kurze Lunte und wirkt am Rücken des Flugzeugs wie ein Raketenantrieb, der sicherlich dem Fluggerät massiven Auftrieb verschaffen könnte, damit dieser sich in die Lüfte erheben kann, um fortzufliegen. Oder auch nicht! Tim ist mit seiner Arbeit zufrieden und legt das große Flugzeug hastig zur Seite weg, während der sanfte Luftzug seiner Bewegung einen anderen vereinzelten Böller, der noch unter einer alten farbverschmierten Zeitungsseite halb im Verborgenen liegt, nun endgültig zum Vorschein bringt. Dann wendet er sich einem Kriegsschiff zu, das er ebenfalls mit Farbe „bemalt“. Der Junge summt irgendetwas leise und vergnügt in sich hinein.
Luise betrachtet diese beiden Böller sehr genau – und sie lächelt still in sich hinein. Sie ist beim Anblick dieser wuchtigen Knallkörper überhaupt nicht beunruhigt, denn sie weiß genau, dass sie Attrappen von einer Filmrequisite sind, die sie von einem Freund, der bei einer Filmproduktion arbeitete, einst geschenkt bekommen hatte, weil diese unbenutzt übriggeblieben waren. Und dass Tim diese Art von „Raketenantriebe“ so sehr liebt, wusste sie nur allzu gut, und deshalb hatte sie ihm diese Böller vor langer Zeit mitgebracht. Tim musste ihr dennoch hochheilig versprechen, dass er die Lunten nicht anzünden würde. Abgesehen davon, dass Tim dies unter keinen Umständen hätte anstellen können, weil im Hause Marquardt nirgendwo Streichhölzer oder ein Feuerzeug zu finden gewesen wären. Und Luise war sich ebenfalls sehr sicher, dass sowieso nichts Schlimmes würde passieren können, weil unter der Ummantelung – also im Körper der Stangen – definitiv kein Sprengstoff oder Ähnliches vorhanden war – und trotzdem wollte sie auf Nummer sicher gehen. Denn erstens sehen verbrannte Lunten nicht sehr schön aus und zweitens ging die Sicherheit, so oder so, immer vor. Und genau das musste sie auch ihren Eltern lange und breit erklären, dass von diesen großen Böllern definitiv keine Gefahr ausgehen würde, bis diese sich damit ebenfalls einverstanden erklärten.
Luise legt ihre Hand sanft auf Tims Schulter, um ihn nicht zu erschrecken und ihn vorsichtig daran zu erinnern, dass sie jetzt anwesend ist. Dennoch schreckt Tim kurz auf und lächelt Luise gutgelaunt an, als hätte er sie bereits erwartet. Er ist überglücklich und steigert sich körperlich in seine eigene Freude so hinein, als würde er beinahe „Schokln“, so wie es bei religiösen Juden beim Beten der Brauch ist.
»Habe dir was Schönes mitgebracht, aber es ist noch im Auto. Ich gebe dir das nach dem Essen, Okay?«, sagt Luise freudig.
Der Junge stoppt augenblicklich seine stereotype Bewegungsfreude und schaut Luise mit neugierigen und leuchtenden Augen an.
»Wo hast du das denn? …ich will das aber jetzt!«, antwortet Tim zappelig.
Der Junge blickt Luise ungeduldig an und sucht mit nervös hastigen Blicken – links und rechts an Luise vorbeischauend – vergeblich und dringlich nach der Überraschung, als hatte sie das Geschenk absichtlich hinter ihrem Rücken oder irgendwo anders versteckt. Luise hebt ihre beiden leeren Hände in die Luft und erwidert Tims unruhige und erfolglose Suche mit einem ermahnenden aber liebevollen Blick.
»Nach dem Essen habe ich doch gesagt!«
Tim spürt, dass Luise es wirklich ernst meint. Seine anfänglich vergnügliche Stimmung kippt und seine Mundwinkel verziehen sich nach unten. Er senkt den Kopf und sein Gesichtsausdruck wirkt traurig, aber er zeigt noch mehr den Ausdruck der Enttäuschung. Luise ihrerseits mag Tim nicht so bekümmert sehen und versucht ihn behutsam aufzumuntern.
»Versprochen! Du musst nicht traurig sein… du wirst sehn’ mein Großer, es ist was ganz Tolles. Gleich nach dem Essen bekommst du das… und ich zeige dir dann, wie es funktioniert, Okay? Komm jetzt!«
Luise streckt Tim ihren Arm auffordernd entgegen und Tim wiederum schaut Luise so an, als hätte er ihr insgeheim und überraschend eine sehr schwierige und knifflige Quizfrage gestellt, die sie sogleich beantworten müsse. Luise kennt Tim gut genug, und noch bevor sie reagieren kann, weicht Tim dieser Situation urplötzlich aus, schnappt sich ein „fertig bemaltes Flugzeug“ und läuft vergnügt in Richtung Tür.
»Ich bin schneller!«, ruft er laut, als wäre sein Sportsgeist nun endgültig entfesselt.
Luise bleibt noch eine Weile vor dem Basteltisch stehen und mustert intensiv den großen Flieger mit Raketenantrieb, neben dem in unmittelbarer Nähe ein weiterer einzelner und mächtiger Knallkörper liegt.
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Luise schließt die weiß übertünchte Tür hinter sich leise zu und geht den Flur wieder zurück. Sie schlendert einmal rechts um eine Ecke des langen Flurs und biegt sogleich links wieder ein. Sieben Schritte später steht sie vor der seitlich aufgeschoben Abtrennung des Arbeitszimmers, in dem ihr Vater Paul Marquardt hochkonzentriert über ein Architekturmodell leicht gebeugt ist, um diesen Bau von allen Seiten sehr genau zu inspizieren. Luise bleibt an der Türschwelle ohne Türrahmen stehen und mustert ihren Vater – eine mittelgroße und stattliche Erscheinung in seinen Mittsechzigern mit angegrauten Haaren, stillvoll gekleidet mit einem schwarzen Smedley Polo-Shirt und einer feinen dunkelgrauen Stoffhose und handgemachten englischen Schuhen in schwarz – dessen seriöse Ausstrahlung den Raum ganz und gar erfüllt, beinahe so als läge etwas sehr strenges und Autoritäres in seiner Haltung, dass er nicht verheimlichen kann. Der Mann ist derart in seine Arbeit vertieft, dass er Luise nicht bemerkt. Sie beobachtet interessiert ihren Vater bei seiner Tätigkeit:
Luise schaut auf die Hände ihres Vaters, die sehr präzise kleine bewegliche Teile des Modells abnehmen und wieder zusammensetzen, und sie beobachtet weiterhin, wie diese Hände pedantisch kleine hellgraue fast weiße Menschenfiguren ganz bewusst und millimetergenau hin und her rücken, bis diese vorgeblich an der richtigen Stelle stehen, damit das Modell so natürlich und harmonisch wie möglich erscheinen kann. Anschließend wandern Luises Augen das Arbeitszimmer interessiert ab:
Dieser große Raum ist so „erwachsen“ und stilsicher eingerichtet, dass man sich sehr anstrengen müsste, um ihn eventuell hier und da einen Hauch noch geschmackvoller zu gestalten – was kaum möglich ist – abgesehen von der Tatsache, dass zwei sich gegenseitig anlächelnde Steh- und Schreibtischleuchten EB 27 von Édouard-Wilfred Buquet die wahre Vollendung dieser Einrichtung als Lichtgestalten markieren. Luise schaut sich weiter um und sie betrachtet fasziniert ein wandfüllendes Bücherregal in formvollendeter und massiver Eiche mit sehr akkurat angeordneten Bücherreihen, teilweise sogar penibel nach Farben sortiert. Und sie erkennt im Weiteren auf einem sehr großen Arbeitstisch, das fast zu schweben scheint, weil die Füße sehr dezent und statisch ausgelotet nach innen versetzt sind, einige typisch kleine und mittelgroße Architekturmodelle, die mehr oder weniger ausgearbeitet sind. Nun wird es aber Zeit, denkt Luise und räuspert sich dezent.
»Ach Luise, du bist schon da?«, schreckt der Vater kurz aber nicht sonderlich überrascht auf, mit einem nur flüchtigen Blick in Richtung seiner Tochter, »Ich muss hier noch schnell etwas nachschauen... geh’ doch schon mal vor, ich komme gleich«, führt Paul Marquardt weiter aus, damit er in Ruhe weiterarbeiten kann.
»Mach nicht zu lang. Du weißt ja, dass Mama es nicht mag, wenn sie mit dem Essen warten muss«, sagt Luise.
»Ja, ich weiß, ich bin gleich da«, antwortet Paul. Der Mann blickt kurz auf und lächelt Luise etwas aufgesetzt an.
Luise lächelt kurz zurück, dreht sich ernüchtert auf dem Absatz um und entfernt sich wieder von der Türschwelle, ohne das Arbeitszimmer betreten und ohne den Vater in gebührender Form begrüßt zu haben, so wie es Familienmitglieder manchmal tun – sich zum Beispiel herzlich umarmen – wenn sie sich lange nicht gesehen haben.
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Luise geht den Flur wieder zurück und biegt diesmal rechts ab. Sieben Schritte später betritt sie einen sehr großen Raum, der Ess- und Wohnzimmer als untrennbare Räume fließend ineinander übergehen lässt. Sie geht einfach weiter, lässt den Essbereich hinter sich und betritt das größere der beiden Räume, ein sehr angenehmes und helles Wohnzimmer – vielmehr ist es ein „Lebensbereich“ – das von einer überdimensionalen Glasfensterfront mit Panoramablick nach Draußen als markantes Element der Architektur präzise aber unaufdringlich dominiert wird. Luise bleibt kurz stehen und schaut sich um, als würde sie diese Räume zum ersten Mal sehen. Wenn man das Arbeitszimmer von Paul schon als sehr stilsicher in seiner Einrichtung empfinden kann, so muss man doch bei dem Anblick dieser zusammenhängenden Räume ohne Zweifel anerkennen, dass sich die Eltern in Bezug auf die Gestaltung der Innenarchitektur hier selbst übertroffen haben, denkt Luise und lässt ihren Gedanken weiter schweifen. Die Räume zeugen derart von handwerklich konsequenter Vorliebe für das Bauhaus wie auch von der Notwendigkeit unübertroffener und kostspieliger Schlichtheit und Zweckmäßigkeit der schönen wie durchdachten Möblierung dieser Räume – die auch vereinzelt andere Stilrichtung als das Bauhaus wie auch besondere Einzelstücke als Gestaltungselemente vorzuweisen haben – dass man nicht umhinkommt anzunehmen, dass sie – die Eltern – hier unter anderem nach Le Corbusiers fünf Elemente der Architektur vorgegangen sein müssen – natürlich auch allgemein gesprochen, bezogen auf die gesamte Architektur. Und das ist natürlich das Hauptanliegen des Vaters, der nicht umsonst mit seinen ungewöhnlichen und teilweise mondänen Entwürfen als hochdotierter Architekt zu Ruhm und Ehre gelangt ist… aber das ist sicher nur ein Teilaspekt dieser hervorragenden Gestaltung, denkt Luise und schaut weiter auf die Wände, die sehr reizvolle wie ungewöhnliche Kunst exponiert aber unaufgeregt darbieten. Es sind nicht viele Arbeiten, die an den Wänden hängen, aber solche, die man ebenfalls bekannteren Künstlern zuordnen kann und die zudem die Gemeinsamkeit aufweisen, dass sie als Hauptthema reine Natur abbilden, wie zum Beispiel eine Waldlandschaft, die sich in ihrer rätselhaften Darstellung jeglicher Interpretation bewusst und sehr meisterlich zu entziehen vermag. Flankiert wird diese sehr stimmige Ausformung der Inneneinrichtung durch ein paar kleine wie mittelgroße Objekte bzw. Skulpturen, die teilweise auf Sockeln ruhen, und ebenfalls in irgendeiner Form die Ideen der reinen Natur als Dialog anbieten.
»Essen ist gleich fertig… Luise, deck doch bitte schon mal den Tisch, ja?«, ertönt es schlagartig aus der Ferne der Küche.
»Ich mach das gleich Mama ... Moment noch… ich muss etwas…«, antwortet Luise in ihrer angehobenen Lautstärke und geht, wie magisch angezogen, zum großen Panoramafenster.
Luise schaut fast verträumt und sehnsüchtig auf eine schöne und dunkelgrüne Waldlandschaft, die sich hinter dem Haus in unendlicher und dennoch undurchdringlicher Weite – wie ganz nah und doch so fern – vor ihren Augen prächtig ausbreitet. Sie steht bloß da und betrachtet die Bäume, Blätter und Äste, die sich leicht im Wind hin und her biegen und bewegen, und sie hört auch das leise und charmante Zwitschern der Vögel, weil das große Fenster scheinbar vorher zu einer Seite hin etwas aufgeschoben wurde.
Und plötzlich, wie von Geisterhand, bewegen sich die Blätter und Äste nicht mehr, kein bisschen, und auch das Zwitschern der Vögel verstummt, als hätte jemand diese Bewegungen sehr abrupt angehalten und den Ton abgeschaltet. Es herrscht Stille, darauf folgt Totenstille und danach wölbt sich eine große dicke Glasglocke dumpf und wabernd über Luises Haupt und ein stiller Schrei, der sich aufbauscht wie tonnenschwere Watte aus elektrisierter Glasfaser, ereilt sie mit voller Wucht – in diesem Augenblick!

Nichts ist so frei wie der Wind,
auch er sucht sich sein Kind ganz genau,
mit allem, was dazu gehört,
mit Haus, Hof und Reiterpaar,
und eine Seele noch dazu.
Und so fliegt der Wind über alles hinweg,
wäre sie in ihrem Herzen nicht so leer,
sollte alles so sein, wie es einmal war,
lebendig, fröhlich und strahlend schön,
so aber, ist es nicht.

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Luise sitzt mit der Familie am großen Esstisch und speist. Das trotz der späteren Mittagszeit gedämpft wirkende Tageslicht ist um diese Jahreszeit besonders einladend und freundlich, weil sich der angrenzende Wald wie ein verbindendes Element mit Rücksicht auf Licht und Schatten zwischen Architektur und Sonnenlicht natürlich und wohlwollend als Vermittler anbietet. Dieses angenehm gebrochene Tageslicht scheint in das Esszimmer gefällig hinein und schafft eine wohlig luftige Atmosphäre. Nicht nur weil das große Panoramafenster im Wohnbereich genug Licht in den angrenzenden Essbereich wirft und diesen somit vorteilhaft erhellt, sondern weil auch ein weiteres aber viel schmaleres Panoramafenster in die Außenwand des Essbereichs eingelassen ist, das in der Flucht zum großen Fenster eine hervorragend formal gelungene wie auch ästhetisch schöne Anordnung bildet, die dem Sonnenlicht als Hilfestellung und der Unterbrechung durch die Bäume alle Möglichkeiten und Varianten des direkten wie indirekten Hineinscheinen und der mannigfaltigen Reflexion ermöglicht.
Das schmale und kleinere Panoramafenster im Esszimmer ist ebenfalls ein Stück weit aufgeschoben und eine angenehm leichte Brise weht in den Raum hinein, als wollte sie allen Beteiligten etwas Kühlung verschaffen, die nicht nur guttut, sondern auch die Anwesenden für einen gewissen Augenblick vielleicht miteinander eint.
Luises vorangegangene heimliche Panikattacke, die einige Zeit zurückliegt, und die sie jetzt einigermaßen überwunden hat, ist keinem der Familienmitglieder scheinbar aufgefallen. Schon gar nicht Vater Paul, der ja bis zuletzt nicht anwesend war und erst an den Tisch kam, als Mutter Helga mit Tims mehr oder weniger stoischer Hilfe das Essen hereinbrachte, und nicht Luise um Hilfe bat, weil sie vielleicht intuitiv gemerkt hat, dass etwas mit ihrer Tochter nicht stimmte. Luise wiederum empfand diese Geste als sehr beruhigend und als Erleichterung dazu, dass ihre Mutter sie tatsächlich in Ruhe ließ. Denn sie wollte mit ihrem Verhalten weder Aufsehen erregen noch lästige Fragen beantworten, auf die sie in jenem Moment selbst keine Erklärung hatte, außer vielleicht einem seltsamen Unbehagen, das sie seit ihrer Ankunft im Hause Marquardt heimlich verfolgt.
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Luise betrachtet unauffällig ihre Eltern, die vornehm aber sichtlich auf das Essen konzentriert sind. Die Mutter sitzt sehr gerade am Tisch und genießt mit der Leichtigkeit ihrer guten Tischmanieren das selbst angerichtete Essen scheinbar in vollen Zügen. Sie schaut nur hin und wieder flüchtig zu Tim hinüber, als würde sie ihn mustern – ernsthaft und leicht von oben herab, aber dennoch irgendwie liebevoll, so wie Erwachsene das manchmal mit Heranwachsenden tun – um für sich vordergründig sicherstellen zu wollen, dass der junge Mann sich auch anständig bei Tisch verhält – soweit man das von Tim natürlich erwarten darf. Vater Paul sitzt leicht gebeugt am Tischende über seinem Teller und er scheint, seiner ruhigen Ausstrahlung nach zu urteilen, gänzlich mit sich selbst zufrieden in seine Mahlzeit vertieft. Luise kann ihm wirklich nicht ansehen, ob er das Essen ebenfalls genießt, denn sein Gesichtsausdruck ist eher neutral und fast sachlich, so als würde man – in diesem Fall die exzellente Köchin des Hauses – in einem passenden Augenblick erwarten dürfen, dass er vielleicht eine erfreuliche Beurteilung abgibt, damit alle befriedigt weiteressen können, während er jedoch ein höfliches Kompliment die ganze Zeit über den Anwesenden – aber vorrangig seiner Frau – schuldig bleibt.
Diese Atmosphäre empfindet Luise als bedrückend und als das Gegenteil von familiärer Beschwingtheit – Stillschweigen und Essen wie eine eingefressene Gewohnheit von tradierten Verhaltensmustern bestimmen diese Momente am großen Esstisch. Als könnte es gar nicht anders sein, dass man einerseits zusammensitzt und gemeinsam das verspätete Mittagessen zu sich nimmt, aber gleichzeitig so weit voneinander entfernt ist, dass jeder durchaus auch für sich allein in einem eigenen Raum sein könnte, außer vielleicht Tim, denkt Luise während sie das störende und quälende Kratzen und Schneiden des Bestecks auf dem feinen Porzellan als die einzige und sehr unangenehme Geräuschkulisse im Raum wahrnimmt.
Luise dreht sich staunend zu Tim seitlich um, der an seiner Suppenvorspeise hängengeblieben ist. Oder man hat ihn einfach in Ruhe gewähren lassen, da man weiß, dass er nicht in der Geschwindigkeit mit den Erwachsenen mithalten kann und muss. Sie beobachtet ihn, wie er seinen Löffel gelangweilt in die Suppe eintaucht, den Inhalt wieder ausleert, erneut eintaucht und ausleert. Er wirkt irgendwie verloren und abwesend in seiner eigenen Bewegungsmeditation, die er sich bestimmt nicht freiwillig ausgesucht hat. Vielleicht ist er auch nur in Gedanken schon bei seinem Geschenk, welches er bestimmt sehnsüchtig und voller Neugier und mit sehr großer Freude zügig zu öffnen bestrebt wäre – würde man ihn lassen, denkt Luise während sie ein sehr kleines Stück von ihrem Filetsteak behutsam abschneidet, sodass eine dezent kleine hellrote Blutlache auf dem Teller zurückbleibt, welche sich langsam aber deutlich in ihrem Umfang ausbreitet. Luise ist wie paralysiert von dieser Wirkung – einerseits faszinierend und wohlgeformt schön und andererseits unnatürlich abstoßend.
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Vater Paul lehnt sich gemächlich in seinem Stuhl zurück, nachdem er einen Bissen zu Ende kaut, räuspert sich instinktiv und etwas gestelzt, als hätte er sich fast verschluckt und setzt dann erneut an, um dieser Situation seine leise aber lakonisch eindringliche Stimme aufzuerlegen, als wollte dieser Klang der unheimlichen Stille und dem endlosen Schweigen im Raum einen erlösenden Rest von Leben einhauchen, jedoch in eben seiner kurz gefassten aber dennoch sachlich freundlichen Art.
»Luise, wie ist das neue Architekturbüro, kommst du gut voran?«, fragt Paul, als wollte er nur eine Information einholen.
Luise ist für einen kurzen Moment von Pauls unerwarteter Ansprache irritiert, da sie immer noch auf ihren makellos weißen Teller starrt, der diesen natürlichen aber für sie unausstehlichen Effekt der Blutlache darbietet. Sie schaut kurz auf, ohne ihren Vater anzusehen, und blick stattdessen auf seine großen Hände, die das Messer tief und kraftvoll in das Fleisch hineinschneiden, um dem angeregten Magen ein weiteres Stück dieses vorzüglichen Rinderfilets einzuverleiben, während er auf die Antwort seiner Tochter wartet.
»Ja... ich…«, stammelt Luise unsicher auf die Frage ihres Vaters und strengt sich nicht sonderlich weiter an, weil sie sich einerseits kraftlos und müde fühlt, und weil sie andererseits auch nicht weiß, was genau sie ihm antworten soll. Denn sie findet weder einen glaubhaft triftigen Ansatz noch einen passend nachvollziehbaren Gedanken, der diesem Augenblick die nötige und erforderliche Erleichterung einer Unterhaltung verschaffen könnte. Der Vater ist irritiert von der langen Pause seiner Tochter und setzt erneut an.
»Hat man dir die Partnerschaft schon angeboten oder seid ihr noch nicht soweit?«
»Ich…«, versucht sie fortzufahren, als Mutter Helga spontan interveniert.
»Tim, setz dich bitte gerade hin und iss endlich deine Suppe auf!«, ermahnt die Mutter Tim mit einem strengen aber wohlgesinnten Blick, der auffordernd genug ist, um ihm klarzumachen, dass ihre unendliche aber nicht bis in alle Ewigkeit zu beanspruchender Geduld langsam aber sicher an einem kritischen Punkt angelangt ist.
Luise schaut mitleidend zu Tim, der die Aufforderung von Helga weder wahrnimmt, geschweige denn dieser wahrscheinlich in seiner naiven Sturheit Folge leisten würde, hätte er diese Ermahnung überhaupt als solche vernommen, da er nach wie vor wie geistesabwesend und in seine eigenen Gedanken versunken, eigentlich ganz woanders ist, nur nicht am Esstisch.
Luise fühlt sich sehr unwohl. Sie schluckt, ihr Magen rebelliert, rumort und sie stößt mehrfach auf, als müsste sie sich gleich übergeben. Ihr Gesicht wird kreidebleich und sie zittert innerlich, dass sie Angst, Trauer, Panik, Ekel und eine falsche Scham gleichzeitig überkommen, als würde in Ohnmacht zu fallen die einzige mögliche Option in dieser Situation sein – das Ausblenden vom Allem, damit sie endlich Ruhe hat und nichts mehr spürt. Sie hält diesen Druck nicht mehr aus, aber jetzt und in diesem Moment aufzugeben scheint ihr auch keine wirklich gute Lösung zu sein, denn dieser Schmach will sie sich selbst und schon gar nicht den Eltern gegenüber aussetzen, rechtfertigt sie sich selbst gegenüber. Und dann:
Sie steht ruckartig auf, sodass ihr Stuhl für einen kurzen Moment einkrächzend lautes und unangenehmes Geräusch auf dem hellen Terrazzoboden in den Raum hineinschallt, dass Paul und Helga erschreckt zusammenzucken. Nur Tim scheint davon unberührt und schaut weiterhin in seine Suppe, von der er kaum etwas gegessen hat.
»Entschuldigt, aber mir ist nicht gut, ich muss an die frische Luft!«, sagt Luise mit leiser Stimme und ohne ihre Eltern dabei anzusehen.
Luise wendet sich eilig ab und verlässt den Raum mit schnellen Schritten.

III. Erlösen
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Luise betritt einen schmalen Pfad, der sie in das angrenzende Waldgebiet hinter dem Haus hineinführt. Sie geht zielstrebig und mit ruhigen Schritten weiter und tiefer in diese fast „verwunschene“ Landschaft hinein. Es ist ein sehr schöner und dichter Mischwald, der an vielen Stellen mehr an einen wilden Wald erinnert, vielleicht weil er so naturbelassen wurde, damit er sich ohne den Eingriff von Mensch und Förster frei und natürlich entfalten kann?, denkt Luise, während ihr augenblicklich in den Sinn kommt, dass sicherlich Menschen diese Bäume einst gepflanzt haben müssen, und so folgert sie daraus, dass auch dieser Lebensraum sozusagen teilweise und bewusst „komponiert“ wurde – also kann dieser Wald nicht wirklich wild sein, weiß sie diese Gedanken für sich richtig einzuordnen. Viele hochgewachsene alte Tannenarten, ebenso verschiedene Laubbäume, wie auch Gehölz, das echten Mammutbäumen sehr ähnlichsieht, beherbergt diese wundervolle Naturlandschaft. Und nicht zu übersehen, sehr unterschiedliche Arten von Farn, der in uneinheitlichen Höhen wachsend – alles zusammengenommen – diesen Eindruck einer märchenhaften Umgebung besonders reizvoll verstärken.
Die frühe Nachmittagssonne variiert abwechselnd in stimmungsvollen Licht- und Schattenspielen, die relativ eng zueinanderstehende Bäume Luise bei ihrem Spaziergang wohltuend begleiten – eine vertraute Erscheinung, die sie bereits von ihrer Autofahrt her kennt. Ebenso wird ihr Weg von längeren und dunkleren Teilstücken entlang des schmalen Pfads teilweise überschattet, da das Sonnenlicht nicht ganz bis zum Waldboden durchzudringen vermag.
Wem dieser bezaubernde Wald wohl gehört, fragt sich Luise, es könnte durchaus sein, dass er ebenfalls zum Besitz der Eltern mitzählt. Das aber erscheint ihr eher unwahrscheinlich, denn das ganze Gebiet erschreckt sich vermutlich über mehr als Dreihundert Hektar. Sie und ihre Eltern haben zumindest nie darüber gesprochen, fällt Luise beiläufig ein, während sie ihre Wanderung fortsetzt.
Luise fühlt sich gut und sicher, während sie weitergeht. Sie ist sichtlich erleichtert, denn es geht ihr wieder viel besser und sie genießt die erfrischende und kühlende Wirkung auf ihrem Körper und besonders die Klärung für ihren Geist – das Gehen als Ballast abzuwerfen in dieser wunderbaren Umgebung – und das Loslassen von schweren und unnötig dunklen Gedanken.
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Das verspätete Mittagessen am großen Esstisch neigt sich beinahe unvollendet dem Ende zu, als läge etwas sonderbar Unverrichtetes in der Luft, das diesen sonntäglichen „Familientag“ bis jetzt anders geprägt hat, als von den Eltern sicherlich gewünscht war. Wobei Paul und Helga es sich nicht haben nehmen lassen, das gute Essen bis zuletzt, auch nach dem unerwarteten Abgang von Luise, weiter zu sich zu nehmen, als wäre nichts geschehen. Nur Tim ist in diesem Augenblick nach wie vor über seiner Suppe gebeugt, erneut in seine stereotype Bewegung des „Schokln“ verfallen – aber diesmal stärker als sonst – und summt leise und etwas unverständlich Monotones in sich hinein, das nicht sehr freudig klingt.
Paul erhebt sich ganz ruhig von seinem Stuhl, legt seine Serviette beiseite, und verlässt den Raum mit enttäuschter Mine, um sich wahrscheinlich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Mutter Helga steht ebenfalls auf, schaut ihm kurz nach, als wollte sie noch etwas hinterherrufen, wendet sich aber im letzten Moment wieder ab und blickt stattdessen etwas mitleidig zu Tim herunter, als wollte sie ihn von seiner eigenen Verschlossenheit „erlösen“.
»Tim, kannst du mir bitte beim Abräumen helfen, das wäre sehr nett«, fragt sie ihn geduldig aber bestimmend.
Doch Tim reagiert nicht. Helga stellt ihre Frage erneut, diesmal kürzer.
»Tim!«, ruft sie laut genug, sodass der junge Mann erschreckt „aufwacht“ und Helga mit zugekniffenen und fast bedrohlichen Augen anblickt. Tim erhebt sich ruckartig von seinem Stuhl, schnappt sich das „fertig bemalte Flugzeug“, das neben ihm am Boden geduldig wartet, und läuft fluchtartig davon. Mutter Helga steht wie fassungslos am Esstisch und schüttelt den Kopf. Sie beginnt, den Tisch abzuräumen.
Tim ist in seinem Zimmer und steht leicht angespannt vor dem großen Basteltisch. Er mustert den einzelnen Böller, der auffällig auf der großen Bastelunterlage liegt, sehr genau. Er versinkt dabei kurz in Gedanken und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, als hätte er ein Geräusch gehört, zuckt er zusammen und schaut mit großen Augen auf das Waldbild an der Wand.
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Luise befindet sich weiterhin auf dem schmalen Pfad, der sie „kurvenreich“ durch diesen hinreißenden Wald führt. Je länger sie diesen sehr engen Weg verfolgt, desto mehr legt sich die Landschaft um sie herum in Schatten, denn das Sonnenlicht zieht sich merklich und weitgehend zurück und leichte hellgraue Wolken ziehen sich stattdessen am Himmel mehr und mehr zusammen. Viele Schritte später verlangsamt sie ihren Gang, als hätte ihr eine innere Stimme befohlen, dass sie eine Entdeckung zu machen hätte. Sie bleibt kurz stehen und schaut sie suchend um – kann aber nichts entdecken. Sie sieht nur die vielen Bäume, Sträucher, den hohen Farn und den Waldboden, der teilweise und doch fast durchgängig mit vertrockneten und abgefallenen Blättern der Laubbäume bedeckt ist, sonst nichts! Luise ist verunsichert und geht mit leicht angespannter Körperhaltung weiter und ihr Atmen wirkt nun angestrengt und nicht mehr so entspannt wie viele Augenblicke zuvor.
Je weiter Luise in diese „fantastische“ Baumlandschaft hineingeht, desto mehr überkommt sie das eigenartige Gefühl, dass sich der Wald unnatürlich verdichtet, als würde sich die Umgebung stetig verändern, so wie sie das vorher nicht wahrgenommen hatte. Sie hält inne, schaut zu den Baumwipfeln hoch, und soweit sie erkennen kann, werden die Wolken am Himmel deutlich grauer und der Himmel verdunkelt sich sichtbar. Dann hört Luise aus der Ferne das leise Donnern eines nahenden Gewitters. Sie weiß, dass sie schon zu weit vom Haus der Eltern weg ist, um schnell zurückzukehren, und so schlägt sie einen anderen Pfad ein, in der Hoffnung, vielleicht irgendwo Schutz zu finden, bevor vielleicht ein schlimmes Gewitter über sie hereinbricht.
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Luise erreicht eine große, tiefe und lang gestreckte Mulde und bleibt augenblicklich stehen. Sie blickt in das Innere der Mulde, die sehr tief erscheint, und die an einem Hang mit saftig grünem Moos, auf der gegenüberliegenden Seite mit Gestrüpp und auf ihrem Grund mit Blättern und teilweise getrocknetem Schlamm bedeckt ist. Eine große und schwere Eiche liegt umgekippt wie eine Art Brücke über der Mulde. Wahrscheinlich ist der arme Baum bei einem sehr heftigen Sturm umgefallen, denkt Luise und sie überlegt, ob sie sich vielleicht darunter verkriechen könnte, um sich vor dem aufkommenden Regen in Sicherheit zu bringen.
Plötzlich hört Luise ein leises und verdächtiges Geräusch, das sie nicht identifizieren kann. Sie horcht kurz auf und späht hektisch die Umgebung aus, indem sie sich mehrmals hin- und herdreht, um zu sehen, woher diese Laute kommen – kann aber nichts erkennen. Sie hört aus der Ferne das Rascheln von Schritten, die bedrohlich näherkommen. Die Schritte werden immer schneller und lauter. Luise steht wie angewurzelt im Wald und ihre ängstlichen Augen verraten nichts Gutes. Sie schaut sich immer wieder hastig um, als suchte sie nach etwas, das sie nicht kennt. Plötzlich kracht ein Geäst und Luise dreht sich erschrocken um und ihr Vater steht unvermittelt vor ihr, schwer atmend, aber mit freundlicher Miene.
»Was machst du hier?«, ist das Einzige, was Luise in diesem Moment über ihre Lippen bringt.
»Ich bin dir nachgegangen… habe mir Sorgen gemacht«, antwortet Paul etwas außer Puste. »Aber wie ich sehe, hast du unseren gemeinsamen Spaziergang allein vorgezogen!«, führt er weiter aus, beinah süffisant.
»Wollten wir denn gemeinsam spazieren gehen?«, fragt Luise spitz.
»Warum denn nicht?«, sagt Paul, beinah gekränkt. »Was spricht denn dagegen? Wir haben das früher schon öfters gemacht, oder nicht?«, sagt Paul.
»Kann sein, ich kann mich nicht mehr so gut daran erinnern«, antwortet Luise.
»Das ist aber schade«, erwidert Paul.
»Warum?«, fragt Luise verwundert.
»Naja, wir hatten doch immer viel Spaß miteinander, wenn wir zusammen gewandert sind, etwa nicht? Der Vater hält kurz inne, als würde er bestimmten Erinnerungen nachgehen, dann:
»Aber gut, die Zeiten ändern sich eben. Wie dem auch sei… jetzt bin ich ja jedenfalls hier und es wäre eine gute Gelegenheit…«
»Aber wie hast du so schnell hierhin gefunden?«, fragt Luise eher beunruhigt als neugierig.
»Es gibt eine Abkürzung, die man kennen muss. Ich hatte sie mal vor sehr langer Zeit zufällig entdeckt«, antwortet der Vater.
»Ich kenne diese Abkürzung auch, aber das erklärt trotzdem nicht, warum du so schnell hier bist«, erwidert Luise ungläubig.
Nein, nein, diesen Weg meine ich nicht. Ich kann mir schon denken, dass du den auch kennst. Es gibt tatsächlich noch einen anderen Pfad, der… ach, was soll’s…«, unterbricht sich Paul selbst, mit der rechten Hand abwinkend.
»Ich frage mich ernsthaft, ob es eine gute Idee war, dir nachzugehen! Ich hatte es wirklich gut gemeint«.
Luise ist in der Tat mehr irritiert als erfreut, ihren Vater in diesem Augenblick an genau dieser Stelle anzutreffen. Dabei wollte sie doch nichts anderes als unbedingt allein sein und schon gar nicht wollte sie mit Paul Spazieren gehen. Wieso auch? Hat man denn in dieser Familie gar keine Ruhe, wenn man das wirklich braucht, denkt Luise genervt, während sie dem Vater nicht in die Augen schaut. Paul kommt Luise einen Schritt näher und streckt ihr seine linke Hand mit dem gesamten Arm entgegen, als wollte er ihr irgendwie behilflich sein, obwohl Luise sichtlich mehr verwirrt erscheint und ihren Gedanken nachhängt, als dass sie körperliche Stütze oder Hilfe benötigte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt der Vater.
Luise weicht dieser sich anbiedernden Geste instinktiv aus, geht einen Schritt zurück und starrt wie gelähmt auf die große Hand des Vaters, mit seinen wulstigen Fingern und dieser sehr blassen und unregelmäßigen Haut auf der Handinnenfläche, die sie in diesem Augenblick nicht als schön empfindet, mehr noch:
Ein heftiger Schlag mit der großen flachen Hand trifft Luise ins Gesicht, auf ihre Wange mit einem so lauten Knall, dass es nur so klatscht, als könnte man das von sehr weit weg sogar hören. Ihre Wange brennt, ihr ganzer Kopf glüht wie heißes Fieber mit Schüttelfrost, gemischt mit Schweiß, der ebenfalls brennt, wie in der heißesten Sonne, die man sich nur vorstellen kann.
Wie aus dem Nichts fängt Luise an zu weinen, erst laut und krampfhaft wie ein Initialschrei, danach leise und klagend, wie eine Mutter, die ihr geliebtes Kind vor nicht allzu langer Zeit verloren hat. Sie bedeckt mit beiden Händen ihr Gesicht, als wollte sie sich nicht offenbaren und sackt innerlich mehr und mehr in sich zusammen. Ihre Beine fangen an zu zittern und sie weiß nicht, ob sie sich hinsetzen muss oder soll oder geschweige denn kann, oder einfach nur hilflos ist, was immer sie auch zu tun bereit wäre. Paul ist anfänglich verunsichert, fasst sich ein Herz und nimmt Luise dann vorsichtig und tröstend in seine Arme.
»Was ist denn los, Luise?«, fragt er besorgt.
Aber Luise kann ihm nicht antworten, sie ist zu sehr in ihrer Trauer, in ihrer Angst, in dieser Starre der fassungslosen Unsicherheit und Mutlosigkeit gefangen. Paul streichelt behutsam Luises Kopf und küsst sie väterlich auf die Wange, so als wollte er sie nur trösten.
Doch dieser Moment der besonderen Hingabe zur Trauer und Niedergeschlagenheit verströmt gleichzeitig ein liebreizenden wie betörenden Duft von „Trösten-Zauber“ und dem zerbrechlichen und sich womöglich steigernden und unkontrollierten Gefühl von ungestillter Wollust, die sicherlich nach mehr verlangt oder sogar bittet, als nur dem liebevollen Streicheln und Berühren von Haut, um Wunden zu „lecken“, damit diese geheilt werden können. Da ist er nun, ein besonders zaghafter Drang, Elfensanft geduldig und spröde zugleich, dieser zärtliche Moment, dem man nicht zu widerstehen vermag, und dem man sich in gewissen Augenblicken – von aller Schuld und Sühne in dieser Welt befreit – ohne Scham und Reue lustbetont und erregt hingeben kann, wenn man das so will oder weil man sich der eigenen Verlockung und der fremden Verführung nicht erwehren kann. Und Paul scheint diese unerwartet aufregende und körperliche Nähe zu seiner Tochter besonders zu genießen. Er riecht an Luises Haar und schließt seine Augen, während Luise weiterhin bitterlich weint. Pauls auskostendes Gesicht ist alles andere als die Miene eines Vaters, der nur Trost spenden will. Als würden wir, ungeachtet unserer Liebe und der Rechtschaffenheit dem Leben gegenüber, manchmal das Schlimmste erwarten, in der Hoffnung, dass es niemals eintreten möge, passiert genau das, wie eine schreckliche Prophezeiung, die unumkehrbar ist und nach Erfüllung sucht: Und plötzlich wandert Pauls Mund in Richtung Luises Lippen. Augenblicklich küsst er seine Tochter zärtlich auf den Mund, wieder und immer wieder. Sein Atem wird erregt und er weitet seine Küsse unzüchtig und leidenschaftlich zu Luises Hals aus. Er liebkost und küsst ihre Haut und ihr Gesicht so heißblütig und ungestüm, wie er nur kann, als wäre es das letzte, was er seinem tristen Leben in Verzückung an liebgewonnener Schönheit wie tollwütig getrieben abzugewinnen vermag.
Überrumpelt und angewidert zugleich, lässt Luise diese Küsse des Vaters über sich ergehen. Ihre Augen richten sich kalt und wie unbeteiligt in die weite Umgebung, so als wäre sie ganz mit sich allein. Sie starrt abwesend in die Mulde und hört in Gedanken Stimmen und Geräusche, als würde sie sich bestimmte Vorgänge vergegenwärtigen wollen oder sich sogar an diese erinnern können:
Sie hört Blätterrascheln, dann Körper, die in die Mulde spielerisch und fröhlich hinunterpurzeln. Vergnügte Stimmen, die sich körperlich scheinbar annähern, leiser werden und dann plötzlich verstummen. Sie hört, wie jemand einer jungen weiblichen Stimme brutal und sehr fest den Mund zuhält und so kräftig an der Kleidung zieht und zerrt, bis diese unüberhörbar laut und verhängnisvoll zerreißt. Sie hört den erstickt gequälten Versuch der jungen weibliche Stimme, die durch die zuhaltende Hand hindurch vergeblich nach Hilfe schreit – wahrlich und unerhört dieser Schrei – der wie ein weit und breit nicht wahrnehmbares dumpfes Geräusch zwischen den Bäumen in der weitläufigen Waldlandschaft allmählich verhallt.
Dann nimmt Luise ein keuchendes und erregtes Atmen wahr und sie schaut an ihrem Körper herab. Der Vater kniet mittlerweile vor ihr auf dem Waldboden. Aus seinen anfänglichen „Trost-Küssen“ an ihrem Hals werden Liebkosungen seiner Hände, die sich an ihren Beinen, an ihrer engen Jeans, erotisch und ganz sicher sexuell gierig emporstreicheln und die Nähe zu ihrem Genitalbereich suchen, in aller Hastigkeit. Seine großen Hände und sein schmallippiger Mund liebkosen, streicheln und bekleckern Luises freigelegten nackten Bauch, als wäre sie seine Geliebte. Der Vater gerät sichtlich mehr in Wallung und aus seinem merkwürdig hechelnden Atem erwächst ein lautes Stöhnen, das definitiv mehr verlangt als nur diese Küsse und Liebkosungen.
Luise ist kreidebleich und ohne Regung. Sie schluckt mehrmals, stößt auf und möchte sich am liebsten übergeben, kann aber nicht. Es sind gefühlt die längsten und furchtbarsten Augenblicke, die sie in ihrem Leben erlebt, und das jetzt schon zum wiederholten Mal. Wann hört das endlich auf, fragt sie sich in ihrer Verzweiflung und horcht auf einmal ganz bewusst und konzentriert in sich hinein, als hätte ihr eine heimliche Stimme eine wichtige Botschaft geschickt. Sie hört ganz genau hin, und ja, sie hat diese Nachricht verstanden! Sie verweilt einen Moment lang gedankenlos. Sie schließt ihre Augen und atmet sehr tief, und länger als sonst, viel Luft durch die Nase ein. Danach atmet sie sehr langsam und bedächtig diese Luft aus dem Mund wieder aus. Plötzlich und ohne Vorwarnung stößt sie dem Vater ihr Knie mit voller Wucht gegen sein Brustbereich und tritt ihn heftig und kraftvoll, so fest wie sie nur kann, mit dem Fuß von sich weg.
»Das reicht!«, sagt sie laut und bestimmend zu Paul, über sich selbst wundernd, dass sie nicht wütend ist und ihn auch nicht anschreit, sondern dass sie sich ganz deutlich mit einem unendlich guten und erlösenden Gefühl der Befreiung an dieser Stelle ganz fest mit dem Waldboden verbunden fühlt.
Der Vater fällt unkontrolliert und das Gleichgewicht verlierend nach hinten und knallt unglücklich hart mit dem Hinterkopf auf die scharfe Kante eines Baumstumpfs auf, der dort steht. Paul bleibt regungslos am Waldboden liegen. Blut strömt ihm nach und nach, aber langsam genug aus dem Hinterkopf heraus, das allmählich im Waldboden versickert, als wollte es unter gar keinen Umständen verräterische Spuren hinterlassen. Luise beugt sich zu ihrem Vater hinunter. Ihr Blick ist nicht von Schuld oder „Was habe ich nur getan?“ Selbstvorwürfen geplagt, wie es in diesem Augenblick vielleicht angebracht wäre – Nein! – sie ist voller Verachtung und ohne Mitgefühl – und sie fühlt sich endlich erlöst.
Wie aus dem Nichts hockt plötzlich Tim neben Luise. Er schaut sie mitfühlend an und überreicht ihr beiläufig wie selbstverständlich einen großen Böller, wie auch ein Feuerzeug, das er ebenfalls bei sich hat. Luise, etwas überrascht aber überglücklich über Tims Anwesenheit, gönnt sich einen kurzen Moment Pause, nimmt den mächtigen Knallkörper an sich und platziert diesen in das Innere der Hose des Vaters, in seinen Schritt. Sie zündet die kurze Lunte an und wendet sich angewidert ab. Luise setzt ein erleichtertes und triumphierendes Gesicht auf, während sie sich vom Tatort entfernt. Aus dem Hintergrund erklingt anschließend der sehr laute und dumpfer Knall des Böllers, dessen mächtige Explosion Stoffreste der Kleidung von Paul wüst und wahllos, und mit viel Rauch, durch die Luft wirbeln und irgendwohin wegschleudern.
Und im gleichen Moment donnert und kracht es so gewaltig laut, als wäre ein Blitz in die Mulde eingeschlagen, so bedrohlich nah und glühend heiß, dass es alles um sich verbrennen wird, gleißend hell und sagenhaft leuchtend dazu, wie eine Verheißung in taumelnder Herrlichkeit. Ein kurzer Moment der Stille, und dann:
Paul legt seine Hand sanft aber auffordernd auf Luises Schulter.
»Komm Luise, lass uns schnell zurück gehen, es zieht ein Gewitter auf!«, sagt Paul zu seiner Tochter.
Luise ist derart erschrocken, zuckt mit Gänsehaut zusammen und sieht mit größter Befremdung den Vater so an, als würde sie einen Geist sehen. Sie schaut sich hastig um, als müsste sie sich hier und jetzt gänzlich neu orientieren. Sie schaut auf den Waldboden. Da ist weder ein Baumstumpf, noch liegt dort jemand! Was ist nur passiert, fragt sie sich derart verwundert, als hätte sie einen schlimmen Albtraum erlebt, der sich so real angefühlt hat, dass sie in einen Brunnen fiel, der so unendlich tief war, dass sie nie auf dem Grund aufgeprallt ist. Oder dass sie mit überreifen und sehr saftigen großen Tomaten gesteinigt wurde, so lange, bis das Fruchtfleisch sich in sehr heißes Apfelmus verwandelte, der sie anschließend verbrannte. Sie versteht es nicht! Dann fasst sie sich an ihr eigenes Gesicht und merkt, dass es trocken ist, und dass keine Spur von Tränen auf ihren Wangen ist. Und dann wird ihr schlagartig klar: Nichts ist passiert, nicht das geringste von dem, was sie sich so sehr abmühte vorzustellen, alles nur Lug und Spuk? So ein Schweinehund, flucht sie innerlich, laut und angestrengt. Doch die Realität hat sie wieder eingeholt und nichts anderes zählt scheinbar in diesem Augenblick!
»Du bist ja ganz blass, Luise, geht’s dir gut?«, fragt der Vater bemüht.
Luise braucht einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln.
»Klar geht’s mir gut!«, antwortet Luise wie bestellt. »Wir Stadtmenschen sind diese herrliche Landluft einfach nicht mehr gewohnt, weiß du? …da zünden einem manchmal die tollsten Gedanken, …ich meine, fantastische Bilder, die…«
»Bitte was… genau… zündet bei dir?«, fragt der Vater überrascht.
»Du weißt schon, die Gedanken, die auf Nimmerwiedersehen in einen Brunnen fallen, Klatsch! Klatsch! Oder die Erinnerungen, die wie reife Tomaten an der Wand zerplatzen, Platsch! Platsch! Verstehst du?«, erwidert Luise.
»Nein, ich verstehen beim besten Willen nicht, was du mir sagen willst Luise!«, antwortet der Vater unverhohlen.
»Nein? Bist du dir ganz sicher?«, fragt Luise.
»Ja, ich bin mir ganz sicher. Ich weiß wirklich nicht, worauf du anspielst. Geht es dir auch bestimmt gut, Luise?«, fragt der Vater.
»Danke… ja, mir geht es wieder besser! Mir geht es wirklich gut, mach dir um mich keine Sorgen«, antwortet Luise.
Der Vater schaut seine Tochter so verdutzt an, als hätte sie einen Überraschungsjoker aus dem Ärmel gezückt, auf den er nicht vorbereitet war.
»Das ist schon alles sehr sonderbar, aber ich freue mich, dass es dir wieder besser geht«, resümiert Paul.
»Finde ich auch, die Zeit ändert alles, nicht wahr, sagt Luise.
»Das sagt man manchmal so, ja… aber apropos Zeit, wir sollten langsam daran denken zurückzugehen, bevor vielleicht ein Sturm aufzieht«, sagt Paul ernsthaft.
»In Ordnung, lass uns zurückgehen. Alles ändert sich, aber der Weg bleibt derselbe!«, sagt Luise beinah belustigt.
»Das stimmt, der Weg ändert sich nicht!«, antwortet Paul.
»Noch nicht!«, setzt Luise nach.
Vater und Tochter gehen mit zügigen Schritten und im sicheren Abstand zueinander zurück. Aber diesmal nehmen sie den abkürzenden Pfad, von dem Paul gesprochen hatte. Und der Himmel zieht sich tatsächlich nicht weiter zu, wider Erwarten, und es droht scheinbar auch kein schweres Gewitter, vielleicht nur leichter Regen.
»Paul, was ich schon immer wissen wollte… gehört dieser Wald ebenfalls zu eurem Grundstück?«, fragt Luise unvermittelt. Der Vater schmunzelt.
»Nein, nicht alles, wir sind doch keine Großgrundbesitzer, wo denkst du hin!«, antwortet Paul. »Nur hundert Hektar, bis zur tiefen Kuhle ungefähr, da, wo wir uns getroffen haben. Da ist die Grenze«, führt er weiter aus.
»Das ist auch nicht wenig«, sagt Luise.
»Das ist richtig. Man muss wirklich dankbar sein, dass man so viel Natur sein Eigen nennen darf. Das ist schon etwas Besonderes. Damals, als wir das Landhaus kernsaniert und umgebaut haben, ergab sich eine günstige Gelegenheit, dieses Stück Wald dazuzukaufen. Und da haben wir eben zugeschlagen«, erklärt Paul.
»Verstehe, aber wer kümmert sich um den Wald«, fragt Luise neugierig.
»So gesehen, Niemand! Der Wald ist so angelegt, dass er sich selbst regulieren soll. Aber es gibt tatsächlich einen Förster, der manchmal, sozusagen, nach dem Rechten schaut, weißt du?«, antwortet Paul.
Luise versteht, was der Vater meint und sie merkt, dass sie nicht weiter nachfragen möchte, denn ihre schnelle Gangart ist schon anstrengend genug.
Während sie ihren Weg weitergehen, ist Luise körperlich gefasst und ihre Stimmung ist den „Umständen“ entsprechend gut, aber ihr Blick ist etwas nachdenklich nach unten gesenkt, als suchte sie Rat, Verständnis und Auflösung der Ereignisse zugleich. Vater Paul schaut aufrecht, als wollte er entschlossen und eilig sein Ziel erreichen.
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Die Schlechtwetterlage hat sich in der Zwischenzeit tatsächlich gelegt, denn kräftige Windböen vom Nordatlantik aufkommend, haben über den südwestlichen Landstrich des Waldgebiets, trotz ihrer abflachenden Geschwindigkeit, die Regenwolken schneller vertrieben als vermutet, die sich nun einen anderen Ort ihres Niederschlags aussuchen müssen. Nach etwas mehr einer guten halben Stunde ihrer zügigen Wanderschaft erreichen Luise und Paul wieder den alten gewohnten Pfad, der beide sicher zum Haus führt. Luise wirkt sichtlich angestrengt und teils erschöpft, als sie den Innenhof des Landhauses wieder betreten und kündigt ihrem Vater ihre weiteren Pläne an.
»Ich hole noch das Geschenk für Tim aus dem Auto und dann muss ich auch schon langsam los«, sagt Luise.
Überrascht bleibt Paul stehen und beäugt seine Tochter einen Moment lang kritisch, als würde sie das nicht wirklich ernst meinen.
»Was ist denn mit Kaffee und Kuchen? Willst du nicht doch bleiben?«, fragt der Vater.
»Nein, mir ist irgendwie der Appetit vergangen. Ich muss nach Hause, hab’ noch einiges zu tun. Wirklich!«, erwidert Luise eindringlich.
Der Vater spürt, dass er vielleicht Luise besser in Ruhe ziehen lässt, und dass seine Tochter es wirklich ernst damit meint. Denn ihm ist nicht entgangen, dass Luise die ganze Zeit etwas mit sich herumträgt, auf das er keine Antwort hat. Aber ihm kommt dieser verkürzte Besuch der Tochter nicht ungelegen, denn auch er hat noch sehr viel Arbeit vor sich, der er sich gerne widmen möchte. Paul geht einen Schritt auf Luise zu, als würde er sie zum Abschied kurz umarmen wollen, stutzt aber, dass Luise sich leicht distanziert verhält und auch keine Anstalten macht, ihm entgegenzukommen, und so lässt er von der Umarmung kurzerhand ab.
»Wie du möchtest! Dann bis bald, Luise. Mach’s gut und pass auf dich auf!«, sagt er väterlich.
»Bis dann Paul!«, erwidert Luise knapp, den Vater nur flüchtig anschauend.
Der Vater geht zur Haustür, öffnet diese, bleibt kurz an der Türschwelle stehen, dreht sich um und winkt Luise zu, als wollte er sich nun endgültig verabschieden. Luise erwidert seinen Gruß kurz mit einer unauffälligen und dezenten Handbewegung und wendet sich ab in Richtung ihres Fahrzeugs. Danach entschwindet der Vater im Inneren des Hauses. Luise schaut ihm noch kurz nach, geht dann zu ihrem Wagen, öffnet die Beifahrertür und zieht das schöne, bunte und große Paket heraus.
U
Tim kauert auf dem Boden im Eingangsbereich und blickt auf den wild aufgerissenen Karton – sein Geschenk, auf das er sich die ganze Zeit schon so sehr gefreut hat. Es ist ein mittelgroßes und hochwertiges Sportflugzeug, fertig bemalt, fein dekoriert, nichts Kriegerisches und überhaupt – sehr schön anzusehen dieser Flieger! Und eine schwarze Kiste mit zwei Hebeln und einer Antenne, die ebenfalls mit im Karton liegt, werden von Tim genau begutachtet. Er schaut Luise fragend an, als wüsste er nicht genau, wie ein Flugzeug aussieht. Aber natürlich weiß er das ganz genau.
»Was ist das?«, fragt er sehr neugierig und deutet mit dem Zeigefinger auf die schwarze Kiste im Karton. Luise kniet sich neben Tim herunter, um das Rätsel aufzulösen.
»Das kann von selber fliegen!«, flüstert sie Tim zu und zieht die Fernsteuerung endgültig aus dem Karton heraus und legt sie vorsichtig vor Tim auf den Boden.
»Damit kannst du das Flugzeug fernsteuern, und dann fliegt das ganz von allein, so hoch wie du willst«, weiß Luise zu berichten und schaut Tim dabei freudig an.
Der junge Mann blickt Luise mit derart strahlenden und aufgeregten Augen an, als wollte er im nächsten Moment unbedingt mehr darüber erfahren wollen, wie dieses Flugzeug allein fliegen kann, als plötzlich und unerwartet Mutter Helga auftaucht.
»Paul sagte mir, dass du wieder fährst. Ist was passiert? Bleibst du nicht zum Abendessen?«, fragt sie Luise ungläubig.
»Nein Mama, danke für das viele Essen, aber ich muss wirklich los. Hatte das wirklich ganz vergessen, hab noch viel zu tun. Muss mich noch vorbereiten für…«
»Und ich dachte schon, es ist irgendwas«, erwidert die Mutter.
»Es ist nichts… alles gut! Ich fühle mich prächtig. Mach’ dir keine Sorgen, Mama!«, sagt Luise fast heiter.
»Wie du meinst! Dann holen wir das nach… ein andermal«, antwortet die Mutter erleichtert.
»Ja, das machen wir ganz bestimmt!«, sagt Luise. »Ich muss jetzt aber wirklich los«, führt Luise weiter aus.
Mutter Helga merkt, dass ihre Tochter es wirklich eilig hat und streckt Luise ihre beiden Arme herzlich entgegen. Mutter und Tochter umarmen sich kurz aber innig. Helga drückt Luise einen Kuss auf die Wange. Dann wendet sich Luise wieder Tim zu und gibt ihm ebenso einen saften Kuss auf die Stirn und verabschiedet sich.
»Nächstes Mal spielen wir das, und dann zeige ich dir, wie das funktioniert, Okay? Ich muss jetzt leider gehen. Aber vielleicht kann Paul dir das auch zeigen. Also mach’s gut… bis bald, mein Großer, ja?«
Tim ist aufgeregt und so sehr mit der Untersuchung des Flugzeugs und der Fernsteuerung beschäftigt, dass er nichts hört und vergisst, sich ebenfalls von Luise zu verabschieden. Luise kennt das von Tim manchmal so und deshalb nimmt sie ihm sein Verhalten nicht übel, streichelt ihn sanft über seinen Kopf und geht aus der Tür. Sie geht auf dem feinen Basaltsplitt zielstrebig aber ohne Eile auf ihren Geländewagen zu, steigt ruhig ein und fährt langsam vom Hof. Mutter Helga steht auf der Türschwelle, schaut Luise nach und winkt ihr zum Abschied freundlich hinterher.
V
Nach einer kurzen Fahrt bringt Luise ihren Wagen auf dem engen Waldweg, seitlich in einer Ausbuchtung, die von diesem schmalen Weg aus nicht direkt einsehbar ist, zum Stehen. Sie schaltet den Motor aus, lehnt sich entspannt zurück und blickt gedankenversunken in die Ferne, so als wollte sie das Erlebte noch einmal Revue passieren lassen. In einem gewissen Zeitraum des geistigen Ausschweifens später merkt sie, dass sie diese Gedankenfragmente nicht so sehr genießt, geschweige denn braucht, auch die Erinnerung an bestimmte Ereignisse nicht mehr. Nach weiteren Momenten der inneren Einsicht, sich lossagend von ihrer Wiederkehr, schöpft sie wieder Mut, holt sich selbst zurück in das Hier und Jetzt und fühlt sich plötzlich wie erlöst und glücklich zugleich – und ein zufriedenes Lächeln zaubert sich magisch und leuchtend auf ihr Gesicht. Sie ist sehr zufrieden, als würde ihr eine sehr schwere Last wahrhaftig von der Seele abfallen und ihr Herz unendlich erleichtern. Luise schaut wie befreit auf den Beifahrersitz. Da liegt das Flugzeug mit Raketenantrieb, wie von magischen Händen dort abgelegt – Tims stolze und erbauliche Bastelarbeit. Es hat etwas sonderbar Archaisches und wirkt dennoch wunderschön und zeitgemäß zugleich, beinah wie ein Stück Kunst, das sich begabt und „plastisch“ besonders imposant Luise präsentiert.
Luise steigt aus dem Wagen aus und platziert den Flieger präzise auf einen Baumstumpf, der, wie der Zufall so will, genau an dieser Stelle wie bereitsteht, und auf dem zwei weitere abgesägte hohe Teilstücke eines anderen Baums so aufgetürmt sind, als sei eigens für dieses Objekt eine Art Sockel zufällig errichtet worden, um dieses wundersame Flugobjekt in seiner Vollendung der Welt zur Schau zu stellen. Im nächsten Augenblick zündet Luise mit dem Feuerzeug, das Tim ihr im Wald überreicht hatte, die kurze Lunte der Rakete an und geht zurück zum Auto und setzt sich hinein.
Luise betrachtet anschließend die heftig gewaltige und sehr laute Explosion des Flugzeugs, das es in tausend kleine Stücke zerreißt, graue wie farbige Plastikteilchen und andere Materialien, die wild und unkontrolliert in der Luft herumgewirbelt werden. Beinahe so, als würde sie sich in diesem Moment gerne vorstellen wollen, dass diese kleinen wie größeren Bruchstücke so dermaßen langsam und träge durch die Luft fliegen könnten, dass sie alle Zeit der Welt besäße, sich diese wüst zerfetzenden Plastiktücke in Seelenruhe anzuschauen, um sich nicht genug an ihnen satt sehen zu können – um diesen Moment so lange wie möglich auszukosten. Sie muss in diesem Augenblick unweigerlich an ihren Lieblingsfilm „Zabriskie Point“ von Michelangelo Antonioni, wo in der minutenlangen Schlussszene farblich atemberaubend schöne sich wiederholenden Explosionen – in extremer Zeitlupe auf Zelluloid gebannt unübertroffen ästhetisch anzusehen sind – viele verschiedene Dinge und Gegenstände außerordentlich gewaltig und brachial zerreißend und zerplatzend durch die Luft geschleudert werden, und damit eine der ungewöhnlichsten Endsequenzen der Filmgeschichte markieren, die man je gesehen hat, mit dem perfekt dazu unterlegten psychedelischen Song von Pink Floyd „Come In Number 51, Your Time Is Up“. Ein fantastisch sonderbarer Film, der bestimmt nicht jedem gefallen hat oder je gefallen wird. Wie das Leben selbst, das ebenfalls überwältigend schön und merkwürdig düster zugleich ist, das auch nicht jedem so gefällt, denkt Luise und gönnt sich eine kurzen Moment Pause. Dann startet sie den Motor und fährt mit ihrem Fahrzeug davon.

Alles ist nun frei, auch die Frau,
denn sie findet ihr Kind ganz genau,
mit allem, was dazu gehört,
aber ohne Haus, Hof und Reiterpaar,
und keine weitere Seele noch dazu.
Und so geht die Frau über alles hinweg,
ist sie nun im Herzen so froh,
sollte alles so sein, wie es einmal war,
lebendig, fröhlich und strahlend schön,
das ist nun so, ganz genau.

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4. Viel Spaß beim Lesen!